Christoph Marthaler hat die Basler Theatersaison 2024/2025 mit einer absurd-komischen und bitterbösen Groteske über den Absturz desorientierter Menschen in den Schlund der extremen Rechte eröffnet. Das Premierenpublikum feierte die Produktion mit starkem Applaus.

Es beginnt auf der Bühne des Basler Schauspielhauses wie so oft beim international gefeierten Theatermacher Marthaler mit inhaltlich schwer durchschaubaren Szenerien einer Gesellschaft zutiefst verlorener Menschenseelen. Ist es die familiäre Geburtstagsfeier des 17-jährigen Nesthäkchens oder eine Jubiläumfest für zwei verstorbenen Ehepartnern? Ist es die Zusammenkunft einer KMU-Generalversammlung oder der Parteitag einer politischen Provinzpartei?
Acht Menschen in kuriosen Gewändern sitzen aufgereiht an einem langen Tisch in einem festlichen Salon, der den mief vergangenen Prunks verströmt. Zuvor haben drei Dienstmädchen das unberührte Geschirr und die Hummer abgetragen. Ein leicht gebückt herumschlürfender Diener hat das wiederholt in Schieflage geratene grosse Porträt an der Hinterwand mehrmals zurechtgerückt. Alle in einer Reihe wie auf einem Podium sitzend, das ist ein eigentlich „unmögliches Theatersetting“, sagte mir Marthaler vor der Vorstellung – „einer Zumutung, die man durchaus auch schlecht finden kann“.
Schlecht fand es im ausverkauften Schauspielhaus indes niemand oder zumindest kaum jemand – ganz im Gegenteil.
Klar ist, dass es sich um eine Treffen von desorientierten Menschen handelt, denen der Bezug mit dem Weltgeschehen ausserhalb des engen Beziehungskreises abhande gekommen ist. Sie äussern sich mit abstrusen Floskeln, die gängige Redewendungen hilf- und zusammenhangslos aneinanderreihen, während aus zahlreichen aufgereihten Begräbnisurnen wirre Parolen oder verballhornte Melodien aus dem Fundus des klassischen Wunschkonzerts ertönen.
Marthaler treibt ein böses Spiel
Desorientierte Seelen in grotesk-absurden Situationen, garniert mit überraschenden Intermezzi, gehören zum Grundinventar von Marthaler und seiner famos eingespielten Bühnenfamilie mit Carina Braunschmidt, Raphael Clamer, Martin Hug, Ueli Jäggi, Graham F. Valentine, Vera Flück, Marie Löcker – ergänzt mit der wunderbar aufspielenden Cellistin Nadja Reich und dem herrlich verschrobenen Familien-Neumitglied Peter Keller. Doch beim aktuellen Projekt mit dem seltsamen Titel „Doktor Watzenreuthers Vermächtnis – Ein Wunschdenkfehler“, treibt Marthaler ein böses Spiel, wie man es sich von ihm nicht gewohnt ist.
Nicht mal mehr die wunderschön vorgetragenen vielstimmigen Gesänge des Ensembles, die sich von Puccini, über Wagner bis Harold Melvin ziehen, haben mehr etwas Tröstliches. Marthaler und seine Bühnencrew führen in die Abgründe, in die Menschen in ihrer Ausweglosigkeit fallen: in die Fänge von AfD, die Polemik von SVP-Populisten wie Roger Köppel, dem US-Präsidentschaftskandidaten sowie seinem Vize, dem Rassemblement National, der italienischen Neofaschisten.
Lediglich die aufmüpfig herauslachende und deshalb von der Restgesellschaft immer wieder gemassregelte junge Frau bleibt aussen vor. Sie spielt auf wunderbare Weise auf ihrem Cello gegen den Niedergang an und lässt am Schluss den vornehm-beklemmenden Salon (eine überaus lebendige Bühne: Duri Bischof) mit dem Geigenbogen als Zauberstab zur Ruine zerfallen.
Politische Brisanz
Der Abend besticht mit einer durch die hintersinnig unterhaltsame Wolke durchscheinende politisch-gesellschaftliche Brisanz. Das zwischenzeitliche Lachen der mehrmals von Polizisten in Kampfmontur abgeführten Gesellschaft ist aufgesetzt, die Polonaise am Schluss endet im Zusammenbruch aller. Und hinter der heruntergefallenen Wandverkleidung löst sich eine Geistergestalt, die einen apokalyptisches Text von Jürg Laederach zitiert.
Das Basler Premierenpublikum feierte den Abend, Marthaler und sein Ensemble nach zwei Stunden mit einem starken Applaus.
Der Text wurde für die Nachrichtenagentur Keystone-SDA verfasst und hier ergänzt.

wow!! 1Der Mann, das lächerliche Wesen
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