«Walsers Text ist wie geschaffen fürs Theater»

Ein Gespräch mit der Schauspielerin und Regisseurin Anita Vulesica, die am Theater Basel Robert Walsers Roman „Der Gehülfe“ dramatisiert.

Frau Vulesica, Ihre Biografie offenbart ein facettenreiches Bild: Als Schauspielerin spielten Sie in Theaterprojekten an renommierten Bühnen mit herausragenden Regisseuren bis hin zur Krankenschwester in eher seichten TV-Serien. Wie kommt es zu diesem Spagat?

Die Krankenschwester spiele ich nicht mehr. Aber ich vollziehe Spagate in alle Richtungen. Das hat mit Interesse zu tun. Ich gucke gerne über den Tellerrand hinaus und fordere mich gerne heraus. Jetzt kommt ja die Regie dazu. Die Regie war vielleicht schon vor der Schauspielerei da. Ich habe schon früh andere Kinder und Jugendliche um mich herumgeschart, um ihnen Dinge beizubringen und mir Sachen ausgedacht, die alle tun sollen, als ich noch Kind und Jugendliche war. Schauspielerei ist eine grosse Liebe, aber ich hatte immer auch Lust, selber Welten zu kreieren. Und ich übernehme gerne Verantwortung und die Führung, ich kann das auch. Ob ich Regie kann, wird sich zeigen.

Aber es ist ja nicht die erste Regie, die Sie machen.

Nein. Ich habe auch eine sozialpädagogische Ausbildung absolviert, bevor ich Schauspielerin wurde. Diese beiden Dinge konnte ich vereinen, als ich begann an Hochschulen in Berlin, Leipzig und Salzburg zu unterrichten – das war vor 12 Jahren. Ich interessiere mich dafür, wie etwas entstehen kann. Ich interessiere mich auch extrem für das Handwerk. In den Hochschulen begann ich, meine ersten Regie- und Abschlussarbeiten zu machen, die für viel Aufmerksamkeit sorgten, worauf auch Andreas Beck auf mich aufmerksam wurde. Das finde ich herrlich. Aber man hat es nicht so einfach, wenn man die Seiten wechselt – vor allem als Schauspielerin.

Warum?

Die Welt ist halt noch immer so, dass Männer mehr dürfen als Frauen. Zum Glück sind wir auf dem Weg, das zu ändern, aber für einen Schauspieler ist es einfacher, auf Regie umzusteigen. Bei einer Frau heisst es schnell, das sind so Marotten, jetzt will die auch noch Regie machen und so.

Was ist in Basel nun neu?

Es ist die erste Inszenierung mit gestandenen Schauspielerinnen und Schauspielern, die schon im Beruf sind. Bei den Studentinnen und Studenten vermischte sich viel Pädagogik mit viel Kunst, wobei zweiteres zuweilen ein bisschen auf der Strecke blieb.

Was ist anderes bei der Arbeit mit gestandenen Schauspielern?

Jetzt muss ich aufpassen, was ich sage. Als Schauspieler ist man ja auch ein Leben lang Student. Wir erzählen vom Leben, was ein andauerndes Lernen voraussetzt. Das Leben hat man ja nicht einfach mal verstanden. Der Unterschied liegt darin, dass ich an einem bestimmten Punkt sagen darf, bitte spielt das, ich kann euch nicht mehr weiterhelfen.

Wie stark spielt die eigene Erfahrung als Schauspielerin eine Rolle?

Eine ganz grosse Rolle. Ich weiss, wie es ist, auf der Bühne zu stehen, wie es ist, wenn man nicht mehr weiterweiss. Ich weiss, wie ich helfen kann, ich kenne den Druck, die Ungeduld, die Wut auf sich selber. Ich finde, Regisseure müssten alle mal auf der Bühne stehen.

Sie haben viel mit Stefan Pucher, Karin Henkel und Claudia Bauer zusammengearbeitet …

… mit Claudia Bauer am meisten.

Sind das Vorbilder?

Vor allem von Claudia Bauer, weil ich als junge Schauspielerin bereits viel mit ihr zusammengearbeitet habe, sie eine sehr gute Schauspieler-Führerin ist und ihr Handwerk gut beherrscht. Ich nehme mir von den Regisseuren das Beste mit und verbinde es damit, was ich noch zu geben habe. In einem aktuellen Poträt in“Theater heute“ ist mein Zitat zu lesen: „Ich versuche die Regisseurin zu sein, die ich gerne gehabt hätte“. Das heisst aber nicht, dass die anderen schlecht waren.

Ist es Ihre erste Arbeite in der Schweiz?

Ich habe schon hier gespielt, aber es ist meine erste Inszenierung.

Und dann gleich mit einem Urschweizer Stoff «Der Gehülfe» von Robert Walser – Pflichtlektüre an Schweizer Schulen. Wie kam es dazu?

Auf ganz pragmatische Weise. Die Regisseurin, die vorgesehen war, wurde schwanger. Dann hat Andreas Beck mich angefragt, ob ich den Walser machen wolle. Er sagte, lies dich mal rein und sage mir, ob es dir gefällt.

Und?

Es hat mir gefallen. Ich fand es aber auch so mutig von Herrn Beck, mir das aufzutragen, dass ich gar nicht nein sagen konnte.

Sie sind in Kroatien aufgewachsen, leben und arbeiten vor allem in Berlin und Leipzig. Wie nähern Sie sich nun diesem Schweiz-Stoff an. Spielen da Klischees eine Rolle?

Mein erster Eindruck war von Klischees beeinflusst, vor allem das Klischee der langsamen und stillen Schweiz. Aber bereits beim zweiten Blick faszinierte mich, dass das, was Robert Walser beschreibt, zutiefst menschlich und damit universal ist. Er erzählt uns in erster Linie von einer Familie, die kalt zueinander ist, die nicht zueinander findet, die den Materialismus zu ihrem Götzen gemacht hat. Er erzählt uns von Spekulation und Bankrott, was hoch aktuell ist. Es gibt Anklänge an den Nationalstolz. Ich sehe eine Wunde im Roman, das ist dieses eine ungeliebte Kind. Die Erzählweise ist in ihrer Bescheidenheit und mit ihren leisen Tönen vielleicht schweizerisch, aber der Inhalt ist laut, der schreit, der ist brutal und nicht unter Kontrolle. Walser rechnet mit seiner Schweiz ab. Er lässt Figuren auftreten, die aufs Vaterland fluchen. Es geht viel ums Geldmachen, damit rechnet er liebevoll ab. Ich kann mit meiner Arbeit nicht etwas über die Schweiz erzählen, das geht in der kurzen Zeit nicht. Der Roman ist in der Schweiz verortet, aber der Umgang der Menschen untereinander ist universell und interessiert mich mehr: wie der Untergang seinen Lauf nimmt und wie der eine, der Gehülfe, das beobachtet.

Sonderlich dramatisch ist der Gehülfe nicht, wie kommt man darauf, diesen Stoff trotzdem zu dramatisieren?

Der Gehülfe ist hochdramatisch, der Stoff eignet sich zu hundert Prozent für die Bühne. Die Texte klingen nicht wie Prosa-Literatur, sie klingen wie ein Theaterstück.

Aber es sind doch vor allem innere Monologe und viele Naturbeschreibungen.

Es gibt auch Dialoge. Natürlich mussten wir vieles zu Dialogen umarbeiten. Walser hat hochgestisch geschrieben. Anders als bei Thomas Mann erscheint alles in Bezug auf eine Haltung, eine Situation. Er hat die Menschen sehr genau beobachtet, sie nicht nur von aussen beschrieben, sondern deren Motivation dargelegt. Deshalb ist der Roman ausgesprochen gestisch. Robert Walser wollte selber Schauspieler werden. Er hat sich beim Schreiben offenbar immer vorgestellt, wie sich das auf einer Bühne präsentieren würde. Er hatte den dramatischen Blick. Das gilt auch für den Inhalt: Im ersten Moment kann man den Eindruck bekommen, dass da eigentlich nichts passiert mit den und zwischen den Menschen. Das stimmt aber überhaupt nicht: Es gibt den brutalen cholerischen Vater, die unglückliche Ehe, sehr viele Konfrontationen, geliebte und ungeliebte Kinder, einen ehemaligen Gehülfen, der in unserer Version nie gegangen ist. Es gibt den Verlauf des Bankrotts  – das ist Drama pur. Die fliessende, leise und bescheidene Schreibweise des Romans steht im Widerspruch zum Inhalt. Der Inhalt ist unbescheiden, laut, cholerisch unkontrolliert.

Wie ist der Text für die Bühne entstanden?

Die Dramaturgin und ich haben eine Bühnenfassung geschaffen, die um die 40 Seiten kurz ist (Anm. der Roman hat über 300 Seiten). Wir mussten destillieren und verdichten. Man kann einem Roman auf der Bühne nicht gerecht werden. Alle Aspekte abzudecken, geht nicht. Wenn man alles haben will, die herrlichen Naturbeschreibungen zum Beispiel, muss man das Buch kaufen. Was in unserem Kopf passiert, wenn wir den Roman lesen, ist ein anderes Theater, als das, was wir auf die Bühne bringen können.

Es werden die unverzichtbaren Hauptfiguren Marti, Tobler, Frau Tobler und der ehemalige Gehülfe auftreten. Sie haben nun auch noch das ungeliebte, gequälte Kind Silvi mit reingenommen. Warum?

Silvi und ihre Schwester Dora, zwei von vier Kindern. Silvi ist die klaffende Wunde des Romans. Sie war mit Ausschlag dafür, dass ich für diese Inszenierung zugesagt habe.

Es wird im Roman nicht klar, warum Silvi als Aussätzige  behandelt wird.

Ja, Robert Walser lässt uns den ganzen Roman hindurch mit dieser schreienden Ungerechtigkeit alleine, das ist das Spannende. Er erklärt sie nicht, aber man kann herleiten, warum das so ist. Walser befreit uns ja nicht von der Tragödie um Silvi. Er hätte den Gehülfen Silvi retten lassen können. Marti stört sich an der ungerechten Behandlung, aber er greift nicht wirklich ein, weiss nicht, wie er es tun könnte zumal er ja um seine Stellung fürchten müsste. Auch das geht uns alle an. Wir wissen, wo Ungerechtigkeiten stattfinden, aber auch wir greifen nicht ein. Die offene Wunde ist das Herzstück des Romans, der etwas Unerlösendes hat. Es fliesst alles spiralförmig nach unten. Nur der Gehülfe kommt irgendwie unbeschadet heraus. Für ihn hat das Zusammensein mit dieser Familie trotz aller Widerstände etwas Gutes, weil er aus einer grossen Entbehrung heraus eingetreten ist und ein Dach über dem Kopf hat.

Nun ja, ganz so unbeschadet bleibt der Gehülfe ja nicht, er verlässt das Haus, ist aber wieder allein.

Stimmt. Der Roman handelt für mich übrigens sehr von einer fehlenden Vater- und Mutterfigur. Das sage ich die ganze Zeit zu meinen Schauspielerinnen und Schauspielern: Es herrscht eine Kälte, weil die Figuren im wahrsten Sinne des Wortes mutterseelenallein sind. Dafür steht Silvi extrem. Jedes System, das unter Druck ist, braucht ein Überdruckventil. Die Familie ist so ein System, ebenso wie die Gesellschaft, die von einem erwartet, erfolgreich und wohlhabend zu sein. Alles das kriegt die Silvi ab. Sie ist der Sündenbock für die unglückliche Ehe. Alles wird kanalisiert auf das schwächste Glied. Es ist eine Tragödie auf beengtem Raum. Wir haben die Villa Abendstern besucht. Die sieht von aussen vielleicht gross aus, innen ist alles mini. Eine Schuhschachtel. Dort war alles zusammengepfercht, die Familie mit den vier Kindern, mit dem cholerischen Alkoholiker Tobler. Aussen ganz gross und innen klein, so sind auch die Figuren. „Der Gehülfe“ ist eine abgründige Komödie. Das ist das, was mich interessiert am Theater.

Robert Walsers „Der Gehülfe“ hat am Freitag, den 13. Dezember Premiere im Schauspielhaus des Theater Basel. Mehr zu Anita Vulesica gibt es hier.

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