Ein mitreissender Einstand des neuen Basler Tanztheaters

„Marie & Pierre“ ist Theater pur. Zu erleben ist ein mitreissendes Panoptikum der Emotionen. Es ist Tanz, der vom feinen sentimentalen Chanson zur grossen barocken Oper aufschwingt und sich dann zum jazzigen Rumba weiterentwickelt – in Ton, Gesang und Bewegung.

Spätestens wenn sich Tänzerin/Sängerin/Musikerin Alma Toaspern an den Flügel auf der Bühne setzt und begleitet zuerst vom Trompeter Immanuel Richter und dann vom Orchester aus dem Graben zum sehnsüchtigen Lied „Pierre“ der Chanson-Legende Barbara anstimmt, ist es vorbei mit der kritischen Distanz. Ganz in ihrer Sehnsucht gefangen ist sie nach ihrem Geliebten, der wohl nicht mehr auftauchen wird, während nebenan das pralle Leben überbordet mit all seinen Missverständnissen, Kämpfen, Versöhnungen und erneuten Kämpfen.

Und wenn das Lied vorbei ist, dann steht sie auf und stimmt in den Tanz ein.

Es ist eines der bewegenden Szenen der Produktion „Marie & Pierre“ der amerikanischen Choreographin Bobbi Jene Smith zur Auftragskomposition von Celeste Oram, die auf eben diesem Chanson aufbaut. Und es ist einer der Höhepunkte des Abends, der unter der Direktion von Adolphe Binder eine neue Ära im Tanz am Theater Basel einläutet.

Es ist ein Abend, der zwischen Handlung und Panoptikum der Emotionen hin- und hermäandriert. Und es einem das inhaltliche Verstehen des Ganzen nicht gerade leicht macht. Aber es ist ein musikalischer und getanzter Blick in die Seelen der Menschen – da sind einfache Essenzen nicht zu erwarten.

Rausch der Bilder

Smith choreographierte nun einen Rausch der Bilder mit einem vielköpfigen Ensemble, das sich in Einzelausbrüchen oder parallel dazu stattfindenden Gruppenformationen kreuz und quer über die ganze Bühne verteilt. Das grenzt oftmals an eine Überforderung für die Zuschauenden – man weiss nicht, wo man hinsehen will – zumal da noch wunderbar aufspielende musikalische Solisten (Keir GoGwilt an der Violinie und am Piano sowie Valentina Dubrovina am Cello) die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Im Zentrum steht das Paar Marie und Pierre, die jeweils ihre so unterschiedlichen Lebenswelten mit sich tragen. Sie als Individuum, die Konventionen geschlechtlicher und gesellschaftlicher Art hinter sich lassen möchte. Und er als Mann, der im machohaften Kampf um Aufmerksamkeit und Macht gefangen bleibt.

Faszinierend zu erleben ist, wie das Bühnengeschehen immer und immer wieder von individuell verzettelten Bewegungsinseln unvermittelt in präzise Tanzlinien des ganzen Ensembles mündet und sich ebenso spontan wieder auflöst. In der traumartigen Höhlenumgebung des ersten Teils wird man manchmal an Szenen aus einem Gemälde von Hieronimus Bosch erinnert. Und im grossen Salon des zweiten Teils fühlt man sich zuweilen in ein Mafia-Epos von Martin Scorsese versetzt.

„Marie & Pierre“ ist ein berührend-packender Theaterabend, so schön, so verwirrend und so erschreckend wie das richtige Leben.

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