Vom Dokumentartheater erfasst

Der Basler Autor und Theatermann Boris Nikitin klettert in seinem neuen Soloprojekt „Magda Toffler – Versuch über das Schweigen“ auf seinen Stammbaum und landet überrascht mitten in einer Holocaust-Tragödie.

Eigentlich ist die Geschichte, die Boris Nikitin da erzählt, zu verrückt, um wahr zu sein. Falsch! Die Geschichte ist so verrückt, dass sie wahr sein muss.

Boris Nikitin tritt auf die leere weite Bühnenfläche der Reithalle, setzt sich auf den Stuhl, der einsam und in gehöriger Entfernung von der Zuschauertribüne dasteht. Er blickt ins Publikum, das ihn mit vielen Dutzenden Augen fest fixiert, und beginnt zu erzählen. Also nein, beginnt vom Papierstapel, den er in den Händen hält zu lesen. Von Heinrich Himmlers Geheimauftritt 1943 in Posen, als er die „Endlösung“ verkündete, den Plan, alle Juden in Europa zu vernichten. Und er wundert sich, dass Himmler seine Geheimrede aufzeichnete.

Doch darum geht es erst einmal nicht, denn Nikitins Solo ist nach seinem „Versuch über das Sterben“ erneut ein Stück präsentierte Autobiografie. Dieses Mal geht es um seine in der Slowakei lebende Grossmutter, mit der er freundschaftlich verbunden ist. Mit der er eigentlich über alles reden kann – nur nicht über die Zeit des grossen Kriegs. Da erfährt er nur, dass ihr Vater von den Nazis nach Buchenwald verschleppt wurde, weil er Partisanen mit Medikamenten versorgt haben soll.

Inzwischen ist er mit den Stuhl um einiges näher zu den Zuschauerreihen gerückt. Nikitin erzählt davon, dass er mit Befriedigung zur Kenntnis nimmt, dass seine Grossmutter zwar stets zynisch und grantig geblieben ist, dass aber die Traurigkeit sie verlassen habe, die depressiven Momente, die er erkenne, weil er von denen selber manchmal beschlichen werde.

Und er erzählt ganz am Rande von seiner Arbeit am Projekt „Imitation of Life“, mit dem er in die Abgründe des Dokumentartheaters und der daran beteiligten Selbstdarstellenden blickte. Dies war zu einer Zeit, als er offensichtlich selber vom Dokumentartheater erfasst wurde. Das war, als seine Grossmutter starb und sich unvermittelt eine ihm zuvor nicht bekannte Grosstante aus Israel meldete, die seine und die Geschichte seiner Familie auf den Kopf stellte.

Nikitin erfährt, dass er Jude ist. Etwas, was man nicht oder eher selten selber wählt, sondern über die Mutterlinie an die Kinder weitervererbt wird. Und er erfährt, dass seine Grossmutter ihr Judentum spätestens seit dem Krieg bis zu ihrem Tod versteckt gehalten hat – es vielleicht bereits zuvor nicht gelebt hatte. Und er erzählt …

… was folgt, soll hier nicht verraten werden, das kann man bei der dritten Aufführung in der Kaserne Basel am Freitag, 24, März, selber erfahren. Hinzugehen lohnt sich unbedingt.

Nikitin erzählt respektive liest das alles mit stets ruhiger Stimme. Unterbrochen durch Pausen, in denen er mit traurigen, von den Scheinwerfern leicht geblendeten Augen in die Zuschauerreihen blickt. Eine nach der anderen legt er die ausgelesenen Blätter des Stapels betulich neben den Stuhl auf den Boden. Und die Zuschauerinnen und Zuschauer folgen der berührenden und fesselnden Erzählung gebannt. So sehr, dass das einmal zu vernehmende Vibrieren eines Smartphones wie ein lautes Donnergrollen wirkt.

Das Projekt trägt im Titel den Namen seiner Grossmutter und die Ankündigung „Versuch über das Schweigen“. Damit sind die biografischen Leerstellen im Leben seiner Grossmutter gemeint. Und die Vermutung, dass es bei Himmlers Aufzeichnung seiner entsetzlichen Rede har nicht um seine Worte ging, sondern um das reaktive Schweigen, das bei den damaligen Aufnahmetechniken eher ein Kratzen und Knarzen war Stille. Und um das Schweigen, wenn es nach rund 80 Minuten Dokumentartheater ganz einfach für einen guten Moment nicht mehr zu sagen gibt.

Schreiben Sie einen Kommentar

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Wechseln )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Wechseln )

Verbinde mit %s