Rauschhafte Götterdämmerung der toxischen Männlichkeit

Mit „Empusion“ nach dem Roman der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk zeigt Regisseur Antú Romero Nunes zusammen mit einem grandiosen Darstellerinnen-Quintett auf der Kleinen Bühne des Theater Basel eine packende Parabel über die toxische Männlichkeit.

Wir sind irgendwo in den Bergen. Also nicht wirklich irgendwo, sondern im niederschlesischen Kurort Görbersdorf, wo einst Heilmethoden entwickelt wurden, die später nicht zuletzt durch Thomas Mann in Davos berühmt wurden. Man schreibt das Jahr 1913, ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dort trifft eine Gruppe von Männern aufeinander, die sich die Zeit mit den damals verbreiteten frauenverachtenden Theorien (u.a. mit Originalzitaten von Darwin, Freud, Richard Wagner und Nietzsche) vertreiben, wenn sie sie nicht gleich zu Tode peinigen.

Das allein wäre schon ungut genug. Die polnische Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk trieb mit ihrem Anti-Zauberberg das schauerliche Setting noch weiter, indem sie noch tödliche Rachetaten der Empusen, das sind Spukgestalten aus der griechischen Mythologie, in die Geschichte einbaute. Diese wiederum verlangen und bekommen jedes Jahr einen jungen Mann als Opfergabe. Dazu kommen als Supplement die sogenannten „Tuntschen“ hinzu, von Hirten oder in diesem Fall von Köhlern aus Wurzeln und Stroh gebastelte Fickpuppen – hierzulande bekannt durch die Sage des „Sennentuntschi„.

In einer stimmigen Dramatisierung durch Lucien Haug hat Antú Romero Nunes diese Schauergeschichte nun auf die Theaterbühne gebracht – in einer Koproduktion des Theater Basel mit dem Lausitz Festival und dem Schauspiel Köln.

In diesem Stück begegnet man nun sechs (oder besser fünfeinhalb) Männern: dem routiniert abgeklärten Kurarzt Dr. Semperweiss und dem unflätige brutalen Hausmeister Wilhelm Opitz (beide mit Perückenumkehr gespielt von Anne Haug), dem sterbenskranken und rührend unbeholfenen jungen Kunststudenten Thilo von Hahn (Gro Swantje Kolhof), dem überkandidelten backenrauschbärtigen K.u.K.-Geheimrat Longinus Lukas (Charlotte Müller), dem mit seinen homosexuellen Neigungen kämpfenden Altphilologen August August (Sabine Waibel) und dem wunderlichen androgynen Studenten Mieczyslaw Wojnicz (Aenne Schwarz).

Alle Männer mit Frauen besetzt

Diese Besetzungsliste zeigt: Die Männergesellschaft wird durchs Band hindurch von Frauen verkörpert, was der toxischen Männlichkeit einen besonders ironischen Ausdruck verleiht – etwa wenn einer feststellt, dass das kleinere und damit minderwertigen Frauenhirn mit demjenigen des Mannes niemals mithalten kann. Das Besondere (und besonders Erfreuliche) an diesem Geschlechtersprung: Auch wenn es sich unter dem Strich fast durchwegs um karikierte Persönlichkeiten handelt, meiden Regisseur Nunes und das Frauenensemble die Falle der plumpen Travestie. Die toxische Männlichkeit ergibt sich aus Text und Inhalt und muss nicht mit aufgesetztem Machogehabe demonstriert werden.

Irritierender Fremdkörper in dieser struben Männergesellschaft ist der androgyne Student Wojnicz, der von seinem lieblosen Vater und dem, wie aus Beschreibungen herauszuhören ist, übergriffigen Onkel zum Sterben in die Klinik geschickt wurde. Ihm ist die empathische Menschlichkeit nicht abhanden gekommen. Das sorgt für Verwirrung, ja sogar homoerotische Gefühlsregungen bei mehreren seiner Begegnungen. „Sie sind Bombe“, bemerkt der Kurarzt einmal, der den jungen Mann bis kurz vor Schluss nicht überreden kann sich auszuziehen.

Aenne Schwarz gibt die Figur auf der Bühne, die dem zuweilen irrwitzigen Spiel einen ausgesprochen berührenden Tiefgang verleiht. Ihr zurückhaltendes Spiel besticht durch eine einnehmende Bühnenpräsenz. Das gilt in im Gesamtauftritt für alle Beteiligten, welche die Balance am Abgrund zur klamottenhaften Posse zu halten wissen.

„Empusion“ erzählt über die Parabel der untergehenden (und leider doch noch nicht untergegangenen) toxischen Männlichkeit hinaus auch noch eine spannende Geschichte, über die hier nicht zu viel verraten sein soll. Am Schluss kommt es nicht so, wie vorausgeplant. Der als Opfer der Empusen auserkorene Wojnicz überlebt, während die Vollmann-Männer in den voraussichtlichen Kriegstod ziehen müssen.

Ein starker, tiefgründig-witziger und berührender Theaterabend.

3 Gedanken zu “Rauschhafte Götterdämmerung der toxischen Männlichkeit

  1. Soweit ich mich aus der Lektüre des Romans erinnern kann, ist Wojnicz nicht nur „androgyn“ im Erscheinen, sondern ein biologischer Hermaphrodit (vom Kurarzt letztlich erkannt), in der gegenwärtigen Sprache der LGBTQIA+: intersexuell, was das genderfluide deutlich macht und die binären Kategorien „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ fliessen machen soll

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